Hier kümmern sich Heroes

Die Tanne Schaffhausen – ein Musterbeispiel für Inklusion

«Jeder soll sich als wertvolles Mitglied der Gesellschaft fühlen und seinen Beitrag leisten können.» Die Tanne-Gründerin und Geschäftsführerin Claudine-Sachi Münger (Mitte) mit dem Tanne-Team.

Sie lassen sich nicht unterkriegen – obwohl die meisten Mitarbeitenden der Tanne Schaffhausen ein Handicap haben. Sie freuen sich, gebraucht zu werden und geben alles, um die Gäste des Restaurants, des Servicewohnens und des Shops individuell zu umsorgen. Die Begegnungen finden auf Augenhöhe statt. Damit ist die Tanne etwas Einmaliges.

«Ich wollte den Beweis erbringen, dass Inklusion wirtschaftlich funktioniert», so Claudine-Sachi Münger. Davor machte sie Karriere bei einem globalen Konzern.

Eine historische Weinstube wird innovativ
Die Tanne befindet sich im gleichnamigen historischen Haus an der gleichnamigen Strasse in Schaffhausen, 210 Meter oder 2 Minuten Fussmarsch vom Silberhof entfernt. Zu ihr gehören ein Restaurant, Studios mit Services für Langzeitgäste, ein Ladengeschäft mit Spezialitäten aus der Region sowie als «Exklave» das «Café mit Herz» an der Vordergasse bei Casa Terranova. Der Betrieb erlangt schweizweite Bekanntheit als innovatives Inklusionsprojekt, bei dem Menschen mit Handicap als vollwertige Arbeitskräfte in der Küche, im Service, im Tanne-Laden und in der Reinigung tätig sind. In der Tanne Schaffhausen sind 11 Personen mit Handicap und 3 Unterstützende tätig. Sie erhält keine Gelder der öffentlichen Hand. Verarbeitet und angeboten werden regionale und hochwertige Produkte. Aufgrund ihrer ethischen und ökologischen Werte gewann die Erfinderin und Geschäftsführerin der Tanne Schaffhausen Claudine-Sachi Münger 2021 im Rahmen des IVS Innovationspreises einen Sonderpreis sowie 2022 den Social Innovation Award.

Wie ist es, Inklusion im Alltag zu leben? Im Interview erzählt Claudine-Sachi Münger, die Gründerin und Geschäftsführerin der Tanne Schaffhausen, wie ihrer Ansicht nach eine Gemeinschaft funktioniert, was Diversität und Augenhöhe für sie bedeuten. Und auch, wieso Schaffhausen der richtige Standort für ein so innovatives Projekt ist, sowie was ihr an der Neustadt besonders gefällt.

Was Sie machen, ist ziemlich innovativ: Ein Betrieb, in dem Menschen mit Handicap arbeiten, ohne dass er Unterstützung von der öffentlichen Hand bekommt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Claudine-Sachi Münger: Ich machte früher Karriere in einem internationalen Konzern. Da erkannte ich, dass der Mensch das wichtigste Gut ist. Wenn man ihn ins Zentrum stellt und offen sowie ohne Vorurteile führt, kommt auch der Ertrag. Gleichzeitig sah ich bei meiner Cousine mit Down-Syndrom, dass es keine Chancengleichheit gibt. Ich fand es so schade, dass ihr Potenzial brach liegt – genau gleich wie jenes ganz vieler Menschen. Jeder soll sich doch als wertvolles Mitglied der Gesellschaft fühlen und seinen Beitrag leisten können. Im Alter von 40 Jahren fragte ich mich: Will ich die nächsten 20 Jahre so weiter machen? Ich merkte, dass auch mein Potenzial nicht optimal eingesetzt war. In einem Coaching erkannte ich, dass mein Herz für die Inklusion schlägt. Ich schrieb das Konzept für die Tanne mit einer kämpferischen Einstellung, denn ich wollte den lebendigen Beweis erbringen, dass Inklusion wirtschaftlich funktioniert. Und ich wollte es im Extrem zeigen. Nämlich mit Menschen, die ein Handicap haben. Eigentlich hat jeder Mensch irgend ein Handicap. Für alles gibt es ein Vorurteil. Ich wünsche mir eine offene Gesellschaft.

«Eigentlich hat jeder Mensch irgend ein Handicap. Für alles gibt es ein Vorurteil.» - Zwei Heroes in der Weinstube.

«Wir wollen mit einer neuen Firma die Inklusion in die Wirtschaft tragen.»

«Ich merke, dass wir wirklich etwas bewegen in Schaffhausen.» - Ein Hero in der Küche.

«In der Tanne hat jeder Mitarbeitende das Gefühl, es sei auch SEINE Tanne und setzt sich ein.» - Flammkuchen gehört zu den Spezialitäten aus der Tannenküche.

«Inklusion bedeutet, jeder Stimme zuzuhören. Jeder Mensch hat seine Perspektive.» - Blick in den Tanne-Laden.

«Unsere Gäste fühlen sich wohl, weil wir eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Uns ist wichtig, dass es ihnen gut geht.»- Service-Hero kümmert sich engagiert um die Bestellung.

Bereuen Sie es manchmal?

Niemals. Weil ich ganz nach meinen Werten leben und entscheiden kann. Ich habe mir die Freiheit erschaffen, das zu machen, was ich richtig und wichtig finde. Das ist ein langer Lernweg. Natürlich habe ich auch Tiefs. Es ist Arbeit. Aber je sichtbarer ich werde, desto mehr Menschen wollen mit mir zusammenarbeiten. Gemeinsam mit Louis Amport als Geschäftspartner habe ich eine zweite Firma gegründet, die inclousion gmbh. Mit dieser wollen wir Inklusion in die Wirtschaft tragen. Ich merke, dass wir wirklich etwas bewegen in Schaffhausen. Trotz allem bin ich froh, dass ich nicht im Voraus gewusst habe, was das bedeutet. Anfangs habe ich bis zu 17 Stunden am Tag gearbeitet.

Die Tanne liegt nicht nur in Fussdistanz vom Silberhof. Zusätzlich gibt es ein paar ähnliche Werte, die sie verkörpert: Gemeinschaft zum Beispiel. Wie entsteht die Ihrer Meinung nach?

Zufällig wohne ich in einer Genossenschaftssiedlung, wo ich erlebe, was das beim Wohnen bedeutet. Gemeinschaft entsteht durch Beziehung, gemeinsame Unternehmungen und emotionale Erlebnisse: Ein Putztag, ein Kinoabend, ein Brunch. Zusammen Zeit verbringen, Erfolge haben. Wir Menschen sind Beziehungswesen und brauchen das. Jeder muss für sich herausfinden, wieviel Nähe er will. Schön ist, wenn jeder angenommen wird, wie er ist: Wenn jemand an den Aktivitäten nicht teilnehmen will, ist das in Ordnung. Wenn man wertfrei und offen im Umgang ist, schafft man echte Beziehungen.

Was ist Ihrer Meinung nach Inklusion?

Sie ist der Schlüssel für alles. Inklusion bedeutet, jeder Stimme zuzuhören. Egal, ob jener von Frauen, Männern, jungen oder alten Menschen oder solchen mit Handicap. Alle haben ihre Perspektive. Damit ein Gemeinschaftsgefühl entsteht, müssen alle eingebunden sein. In der Tanne hat jeder das Gefühl, es sei auch SEINE Tanne. Jeder setzt sich für Sauberkeit und Werbung ein. Wo man sich identifiziert und mitentscheidet, trägt man mehr Sorge. Das ist in Arbeitswelt genau gleich wie beim Wohnen.

«Es geht darum, meine Mitarbeitenden aufzurichten und zu befähigen.»

«Der inklusive Weg bedeutet auch zu schauen, warum etwas nicht funktioniert hat und Lösungen zu suchen.» Tanne-Hero am offenen Bierfenster.

«Es geht darum, die Leute so einzusetze, dass es auch für sie spannend bleibt.» - Küchenglück in der Tanne.

Was braucht es, damit sich Ihre Mitarbeitenden wohlfühlen und Ihr Betrieb doch wirtschaftlich bleibt?

Es geht darum, meine Mitarbeitenden aufzurichten und zu befähigen. Das ist ressourcenschöpfend. Denn wenn man sie aufrichtet, haben sie mehr Fähigkeiten. Ich bezahle ihnen einen Lohn, der ihren Leistungen entspricht. Den inklusiven Weg zu wählen bedeutet auch zu schauen, warum etwas nicht funktioniert hat. Welchen Anteil hat jeder, wie man etwas das nächste Mal besser macht. Ein Beispiel haben wir am Schaffhauser Musikfestival «Stars in Town» erlebt. Wir öffneten unser Bierfenster und verkauften Getränke. Das lief wie verrückt, es musste schnell gehen und artete in eine Ausnahmesituation aus. Schliesslich machte ich 140 Apérol Spritz selber. Denn für den beteiligten Hero funktionierte es nicht, die Zutaten unter Zeitdruck abzumessen. Später realisierte ich, dass mein Vorgehen nicht inklusiv war. Daher überlegte ich mir einen anderen Prozess: In der folgenden Woche haben wir den Apérol Spritz vorgemischt, so dass auch unser Hero die Bestellung selbständig umsetzen konnte. Es geht darum, wie ich die Leute einsetzen kann, damit es auch für sie spannend bleibt. Jeder will so viel Autonomie wie möglich.

Die Tanne bietet auch Wohnungen an. Im Unterschied zum Silberhof sind es solche mit Wäsche- und Reinigungsservices. Welche Faktoren braucht es, damit sich Personen in einer Wohnumgebung wohlfühlen?

Bei uns wohnen sehr unterschiedliche Langzeitgäste: Geschäftsleute, Menschen, die eine Übergangslösung benötigen oder solche aus dem Ausland, die für begrenzte Zeit hier sind. Ich denke, sie fühlen sich wohl, weil wir eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Uns ist wichtig, dass es ihnen gut geht. Und diese willkommende Energie spüren sie. Sie können sein, wie sie sind. Wir pflegen mit allen einen respektvollen Umgang auf Augenhöhe.

«Ich wünsche mir eine offene Gesellschaft.» Claudine-Sachi Münger mit Hero vor der Weinstube.

«Unsere willkommende Energie spüren unsere Gäste. Sie können sein, wie sie sind.» - Blick in die Wäscherei.

Sie sind vor 18 Jahren aus Solothurn nach Schaffhausen gekommen. Was finden Sie schön und charakteristisch an der Stadt?

Das Persönliche. Schaffhausen hat etwas Fürsorgliches, weil man sich kennt. Das bewirkt auch, dass man sich nicht gegenseitig bekämpft. Man schaut für die Region und die Gemeinschaft. Schaffhausen hat viel zu bieten mit dem Rhein und der Natur. Mit meinen Kindern bin ich gerne im Wald unterwegs.

«Die Neustadt bietet viel Diversität auf kleinstem Raum.»
Was gefällt Ihnen besonders an der Umgebung, in der Sie wirken, also der Neustadt und den angrenzenden Gebieten?

Sie bietet auf kleinstem Raum viel Diversität. Die Neustadt ist eher alternativ, der Herrenacker glänzt mit Stars in Town. Es gibt hier eine vielfältige Mischung von eigenen Konzepten: Die legendäre Neustadtbar, interessante Ethnoshops, die edle Beckenburg, der umweltfreundliche Velokurier, das alternative Haberhaus; dann auch das Stadttheater und die Musikschule. Der Fronwaagplatz als Mittelpunkt der Stadt ist auch ganz nahe.

Haben Sie einen Geheimtipp in der Umgebung?

Ich finde den Weg zum Promenadepark charakteristisch für die Stadt: Innert 2 Minuten Fussmarsch über die Brücke beim Haberhaus ist man im Grünen. Zudem entdecke ich immer wieder Neues. Zum Beispiel das Lädeli Lille Ida an der Neustadt 75. Dort können lokale Produzenten in Fächern unterschiedlicher Grösse regionale, handgemachte Produkte ausstellen.